Der Floh des Perfektionismus

Berlin spielt „Schön.Macht.Sein“ im Schauspielhaus

Nach einem amüsanten Gefüßel der Schüler-Moderatoren öffnet sich der Vorhang für die Theatergruppe der staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik Berlin und deren Eigenproduktion „SCHÖN.MACHT.SEIN“. Sie setzen sich mit dem Schönheitswahn und Selbstoptimierungszwang in der Gesellschaft auseinander und ziehen dabei interessante Parallelen zu ihrem alltäglichen Leben. Das Gerüst dieser Collage ist das Märchen vom Schneewittchen. Zusammen mit der „bösen Königin“ stellt sie die einzige durchgängige Figur dieser Inszenierung dar. Sie fungieren als Erzähler und werden geschickt als Instrument genutzt, um das Übertragen des äußeren Drucks, personifiziert durch Ärzte, in die Köpfe der Figuren zu verdeutlichen.

Auf einer weiß gestalteten Bühne stehen schlanke Körper in strahlend weißen Klamotten und richten den Blick ins Publikum – oder eher auf sich selbst: Sie scheinen in den Badezimmerspiegel zu schauen. Durch ihre Erscheinung bringen sie Licht in den dunklen Saal. Es ist die Unschuld und die Reinheit des Schneewittchens, die da auf uns wirkt. Die SpielerInnen tragen Augenbinden, auf denen wiederum Augenpaare aufgemalt sind. Im Scheinwerferlicht scheinen ihre Gesichter aus Porzellan zu sein. Standbilder sind die offensichtliche Stärke des Ensembles. Das erste zeigt die SpielerInnen in puppenartigen Posen, deren Steifheit und Körperspannung sie fast schon gruselig echt wirken lassen. Die Ärzte, erkennbar an ihren weißen Kitteln, betreten die Bühne. Es folgt eine Szene, die den tanzschulischen Hintergrund der SpielerInnen klar erkennen lässt; mit bis in die Fingerspitzen angespannten Armen folgen die Figuren abgehackt und puppengleich den fließenden Bewegungen der Ärzte – eine Sequenz, viel dahinter. Diese Bilder, die in ihrer Kraft vergebens auf ein Zusammenspiel mit ebenbürtigen sprachlich-inhaltlichen Aspekten warten, bilden die Höhepunkte der gesamten Vorführung.

Szene für Szene wird den Charakteren der Floh des Perfektionismus‘ tiefer ins Ohr gesetzt. Die dargestellte Gesellschaft drillt den Einzelnen zur nie endenden Problemsuche. Eine Figur lässt uns an ihren verzweifelten Gedanken teilhaben. Ehrlich und selbstreflektiert führt sie einen Monolog über die Zwänge, die sie sich im Laufe ihres Lebens selbst auferlegt hat; die sie wahrnimmt, verachtet und doch nicht mehr loswird. Man erkennt sich selbst darin wieder. Solche Szenen, in denen durch persönliche Geschichten das Oberflächliche und Kalte der Thematik durchbrochen und Nähe geschaffen werden soll, tauchen verteilt über das gesamte Stück immer wieder auf. Dabei gehen einem nicht alle so nah, wie die eben geschilderte. Viele Texte sind zu lang und unpersönlich. Sie sind nicht ausgespielt, sodass sie an Glaubhaftigkeit und Intensität verlieren und es nicht schaffen, den Zuhörer festzuhalten. Die SpielerInnen bleiben beim Offensichtlichen, bei dem, was man Freunden erzählen würde und was schon in Richtung der Wahrheit zeigt – doch da ist immer noch mehr. Dieses „mehr“ fehlt. Das „mehr“, was nur man selbst kennt. Es fehlt die Verletzlichkeit, die in anderen Szenen durch sehr bildhafte Sprache aussagekräftig getroffen wird. So zum Beispiel in einer Anekdote aus dem Leben einer Darstellerin, in der sie auf ihrem Weg zur Schule ihr eigenes Spiegelbild im dunklen Fenster der S-Bahn studiert.

Die Ärzte erscheinen ein letztes Mal. Sie verbinden, schmieren, sprühen, bearbeiten, korrigieren und optimieren, bis die Figuren kaum noch zu erkennen sind. Ein trauriges Bild, wie man sie auf der Bühne hocken sieht mit den operierten Gesichtern. Wie an Fäden gezogene Leichen stehen sie geistesabwesend und synchron auf – willenlose Zombies. Dies sind die krassesten Sekunden der Vorstellung, in denen man das süße Schneewittchen vom Anfang endgültig aus den Augen verloren hat. Nun stehen sie in engen hautfarbenen Klamotten auf der Bühne und sind weder hässlicher noch schöner als vorher.

Die Berliner liefern zwar einen gelungenen Überblick über das Thema, schaffen es bis zum Ende jedoch nicht, tiefer zu gehen als bis zur rein erklärenden Reproduktion von Erlebnissen. Es gab in der gesamten Performance wenige Gegenpole zur Schönheit, kaum einen einzigen Flecken Schmutz auf den weißen Shirts. Den Spielerinnen scheint ihr eigene Wirkung als Menschen, die für ihr Aussehen und ihre Anmut bewundert werden, nicht bewusst zu sein. Sie können sich daher nicht von einer oberflächlichen Darstellung lösen „und am Ende stehen sie da immer noch so schön!“ (O-Ton Blogredakteurin Alex).

Vorab-Interview Vanessa, Berlin (PDF-Version)

Vorab-Interview Lina, Berlin (PDF-Version)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert