Die da oben sind zu fünft

Niedersachen spielt „schwarz.schwul.schön.“ im Schauspielhaus

Behindert. Polyamor. In der bunten Eigenproduktion der Niedersachsen geht es um Außenseiter, um das Anderssein und darum, die schöne Einzigartigkeit zu erkennen, die sich darin verbirgt.

Man lernt fünf verschiedene Personen kennen, die sich in der Gesellschaft nicht zugehörig fühlen. Die Lüneburger vergraben den roten Faden ganz tief zwischen Tanzeinlagen, kleinen Szenen aus dem Leben der fünf Personen, persönlichen Texten und einem Haufen bunter Klamotten, doch wer nur genau sucht, der findet auch. Sie flechten einen lustigen Strang in das ernste Thema, was das tausendfach durchgekaute Problem der intoleranten Gesellschaft trotzdem interessant und unterhaltsam wirken lässt.

Schrill durcheinander gewürfelte Kleidungsstücke mit Leoprint, im Zwiebellook, Mustermix oder gezielter Kombination von Komplementärfarben. So schrecklich schräg betreten die SpielerInnen in grotesken Tanzbewegungen die bunt erleuchtete Bühne. Das ist ihre Darstellung von Diversität. Doch ausschließlich so schön wie in diesen Szenen wird uns das Anderssein nicht verkauft. Die verschiedenen Alltagssituationen und persönlichen Texte einzelner Figuren geben uns genug Werkzeug in die Hand, um bereits ein wenig an der Fassade zu kratzen.

„Wenn ich alleine mit meinem Vater unterwegs bin, denken alle, ich wäre adoptiert“, sagt ein Mädchen.

„In der Grundschule wurden die Hannahs durchnummeriert – ich war Hannah 3“, eine andere.

Die Figuren legen uns eine Eigenart, einen wunden Punkt oder eine Herzensangelegenheit offen, die sie ausmacht und von der Masse abhebt. Ernst und Witz gehen ineinander über. Mike wird in der Schule wegen seiner geistigen Behinderung von einem Mitschüler beleidigt. Die Mutter einer jungen Erwachsenen kehrt ihr wegen ihrer polyamorischen Beziehung den Rücken zu. Ein schwuler Junge muss mit der Last dieses Geheimnisses leben. Eine deutsche Frau mit Kopftuch erlebt rassistische Vorurteile beim Vorstellungsgespräch. Diese ernsten Szenen, in denen die Schwierigkeiten im Alltag größtenteils gesellschaftlicher Minderheiten gezeigt werden, durchzieht stets eine lustige Ader. So wird der behinderte Junge vom Lehrer gefragt: „Die Sonderschule ist zwei Straßen weiter. Mike, hast du dich verirrt?“

Das polyamor lebende Trio entgegnet der Mutter gegenüber schlagfertig: „Gehen sie mal in die 4. Etage rechts, die sind zu fünft.“ Um diese szenischen Dialoge, die nicht auf Grund ihrer Qualität für die meisten Lacher im Publikum sorgen, durch eine Prise Tiefe und Verletzlichkeit zu ergänzen, mischen sich unter die bunt gewürfelten Einzelszenen der Collage auch vier persönliche Momente, in denen die Figuren ihr Inneres offen legen und sich angreifbar machen. Schade, dass an dem so vielversprechenden Kontrastprogramm nicht viel Glaubhaftes zu finden ist. Obwohl der Ausdruckstanz für viele das Highlight darstellte. Die Gruppe beendet die Performance mit einer weiteren Tanzchoreografie. Dieses Mal stärker und synchroner als die leider wenig ausgereiften Zwischensequenzen. Es kommt einem vor wie eine Bestärkung ihrer selbst und ein Zeichen, was sie setzen wollen. Für Vielfalt und Akzeptanz. Mit dieser Message geht das Licht aus.

Wenn man die Vorstellung mit einem Wort beschreiben müsste, wäre es wohl ‚amüsant‘. Die lustigen Momente des Abends entstehen durch den Abi-Musical Charakter des Theaterstücks, was einen sich zumindest von den sonst so angestrengt ernsthaften Performances erholen lässt. Wer braucht schon Körperspannung und was zur Hölle ist Konzentration, wenn man doch Spielfreude hat. Und das hatten die Niedersachsen. Jeden noch so improvisierten Dialog führten sie mit einem Lächeln.

Interview-Whatsappgruppe, Niedersachsen (PDF-Version)

Der Floh des Perfektionismus

Berlin spielt „Schön.Macht.Sein“ im Schauspielhaus

Nach einem amüsanten Gefüßel der Schüler-Moderatoren öffnet sich der Vorhang für die Theatergruppe der staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik Berlin und deren Eigenproduktion „SCHÖN.MACHT.SEIN“. Sie setzen sich mit dem Schönheitswahn und Selbstoptimierungszwang in der Gesellschaft auseinander und ziehen dabei interessante Parallelen zu ihrem alltäglichen Leben. Das Gerüst dieser Collage ist das Märchen vom Schneewittchen. Zusammen mit der „bösen Königin“ stellt sie die einzige durchgängige Figur dieser Inszenierung dar. Sie fungieren als Erzähler und werden geschickt als Instrument genutzt, um das Übertragen des äußeren Drucks, personifiziert durch Ärzte, in die Köpfe der Figuren zu verdeutlichen.

Auf einer weiß gestalteten Bühne stehen schlanke Körper in strahlend weißen Klamotten und richten den Blick ins Publikum – oder eher auf sich selbst: Sie scheinen in den Badezimmerspiegel zu schauen. Durch ihre Erscheinung bringen sie Licht in den dunklen Saal. Es ist die Unschuld und die Reinheit des Schneewittchens, die da auf uns wirkt. Die SpielerInnen tragen Augenbinden, auf denen wiederum Augenpaare aufgemalt sind. Im Scheinwerferlicht scheinen ihre Gesichter aus Porzellan zu sein. Standbilder sind die offensichtliche Stärke des Ensembles. Das erste zeigt die SpielerInnen in puppenartigen Posen, deren Steifheit und Körperspannung sie fast schon gruselig echt wirken lassen. Die Ärzte, erkennbar an ihren weißen Kitteln, betreten die Bühne. Es folgt eine Szene, die den tanzschulischen Hintergrund der SpielerInnen klar erkennen lässt; mit bis in die Fingerspitzen angespannten Armen folgen die Figuren abgehackt und puppengleich den fließenden Bewegungen der Ärzte – eine Sequenz, viel dahinter. Diese Bilder, die in ihrer Kraft vergebens auf ein Zusammenspiel mit ebenbürtigen sprachlich-inhaltlichen Aspekten warten, bilden die Höhepunkte der gesamten Vorführung.

Szene für Szene wird den Charakteren der Floh des Perfektionismus‘ tiefer ins Ohr gesetzt. Die dargestellte Gesellschaft drillt den Einzelnen zur nie endenden Problemsuche. Eine Figur lässt uns an ihren verzweifelten Gedanken teilhaben. Ehrlich und selbstreflektiert führt sie einen Monolog über die Zwänge, die sie sich im Laufe ihres Lebens selbst auferlegt hat; die sie wahrnimmt, verachtet und doch nicht mehr loswird. Man erkennt sich selbst darin wieder. Solche Szenen, in denen durch persönliche Geschichten das Oberflächliche und Kalte der Thematik durchbrochen und Nähe geschaffen werden soll, tauchen verteilt über das gesamte Stück immer wieder auf. Dabei gehen einem nicht alle so nah, wie die eben geschilderte. Viele Texte sind zu lang und unpersönlich. Sie sind nicht ausgespielt, sodass sie an Glaubhaftigkeit und Intensität verlieren und es nicht schaffen, den Zuhörer festzuhalten. Die SpielerInnen bleiben beim Offensichtlichen, bei dem, was man Freunden erzählen würde und was schon in Richtung der Wahrheit zeigt – doch da ist immer noch mehr. Dieses „mehr“ fehlt. Das „mehr“, was nur man selbst kennt. Es fehlt die Verletzlichkeit, die in anderen Szenen durch sehr bildhafte Sprache aussagekräftig getroffen wird. So zum Beispiel in einer Anekdote aus dem Leben einer Darstellerin, in der sie auf ihrem Weg zur Schule ihr eigenes Spiegelbild im dunklen Fenster der S-Bahn studiert.

Die Ärzte erscheinen ein letztes Mal. Sie verbinden, schmieren, sprühen, bearbeiten, korrigieren und optimieren, bis die Figuren kaum noch zu erkennen sind. Ein trauriges Bild, wie man sie auf der Bühne hocken sieht mit den operierten Gesichtern. Wie an Fäden gezogene Leichen stehen sie geistesabwesend und synchron auf – willenlose Zombies. Dies sind die krassesten Sekunden der Vorstellung, in denen man das süße Schneewittchen vom Anfang endgültig aus den Augen verloren hat. Nun stehen sie in engen hautfarbenen Klamotten auf der Bühne und sind weder hässlicher noch schöner als vorher.

Die Berliner liefern zwar einen gelungenen Überblick über das Thema, schaffen es bis zum Ende jedoch nicht, tiefer zu gehen als bis zur rein erklärenden Reproduktion von Erlebnissen. Es gab in der gesamten Performance wenige Gegenpole zur Schönheit, kaum einen einzigen Flecken Schmutz auf den weißen Shirts. Den Spielerinnen scheint ihr eigene Wirkung als Menschen, die für ihr Aussehen und ihre Anmut bewundert werden, nicht bewusst zu sein. Sie können sich daher nicht von einer oberflächlichen Darstellung lösen „und am Ende stehen sie da immer noch so schön!“ (O-Ton Blogredakteurin Alex).

Vorab-Interview Vanessa, Berlin (PDF-Version)

Vorab-Interview Lina, Berlin (PDF-Version)