La Paloma, einmal muss es vorbei sein!

Wir sagen danke!

Der Politzirkus ist wieder eine Sporthalle, die Blogredaktion wieder ein Klassenzimmer und fancy Chillout-Lounge wieder ein Schulhof. Bevor ihr jetzt aber Trauer schiebt, weil der Alltag wieder anklopft, tauchen wir noch einmal ein in die Eindrücke der letzten Woche und vertreiben damit die Sonntag-Abend-Depression.

Also das fing ja alles schon so Bombe an. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber wir werden uns noch lange an die komplett abgefuckten Momente beim theatralen Auftakt erinnern. Wann hat man denn bitte das letzte Mal so viele Leute auf einmal umarmt? Den Fachtagungsteilnehmern am Rande des Platzes hat man so was von angesehen, wie gerne sie mitgemacht hätten – wäre da bloß nicht die verdammte Bandscheibe. „Erfrischend, diese jungen Leute. Voller Energie.“ So oder so ähnlich. Dann in einer Oper aufgenommen zu werden – ein Ritterschlag fürs Schultheater. Atmosphärisch gab es da für die nächsten Tage eine gewisse Fallhöhe und wir waren selbst ganz überrascht, wie angenehm es im Politzirkus letztendlich geworden ist. Als Innenarchitekt Andi uns nämlich vorletzte Woche die schrille Ansammlung von Kuriositäten, mit denen er ein gemütliches Festivalzentrum einrichten wollte, vor eine leere Sporthalle gekippt hatte, konnte die Tine Wittler in uns nicht anders, als sich auf den Boden zu werfen und hysterisch mit den Beinen zu strampeln. Ohne Witz. Da haben nur die Winkekatzen gefehlt. War dann ja am Ende aber gar nicht sooo kitschig und gerade, als es dunkel wurde und das Licht zur Geltung kam ein echter Place to be!

Bis zu den Workshops, die direkt am zweiten Tag stattgefunden haben, war zum Akklimatisieren eigentlich noch gar keine Zeit. Trotzdem wart ihr sehr offen für die Einflüsse aus den Kursen, selbst wenn skurrile Erfahrungen dabei gewesen sein sollen. Der ein oder andere Workshopleiter ist sicher übers Ziel hinausgeschossen, umso wichtiger, dass ihr auch mal „Nein“ gesagt habt – selbst auf Theaterfestivals hat der gute Geschmack Grenzen. Es geht hierbei aber um Einzelfälle, die meisten Workshops scheinen sehr wertvolle Erfahrungen gewesen zu sein und die Entscheidung zwischen den verschiedenen Angeboten fiel oft schwer – genauso bei den Stücken. Wie oft musste man sich zwischen Brandenburg oder Bremen, dem Saarland oder Rheinland-Pfalz entscheiden! Schade, dass es nicht ohne Parallelvorstellungen ging und dass man bei den Abendvorstellungen nicht immer reingekommen ist. Was will man aber machen? Anbauen? Geht auch nicht.

Ursprünglich stand noch offen, ob eine Fahrt nach Laboe oder doch lieber eine Stadtrundfahrt unternommen werden soll. Jetzt können wir euch ja nichts mehr vormachen: Wer glaubt, auf den Straßen unserer Landeshauptstadt einen schönen Tag im Doppeldecker-Bus verbringen zu können, überschätzt Kiels Größe und unterschätzt den Einfluss der 60er-Jahre-Architekten. Laboe hingegen ist eine Perle am Meer. Auf dem rappelvollen Boot hat man sich wie auf einer Abifahrt in Rimini gefühlt! Naja fast. Ist aber ja auch ekelig warm in Italien, dann lieber mit leichter Brise über die Förde juckeln und mit Horst und Gisela Eis essen. Rentnerparadiese sind ja deswegen Rentnerparadiese, weil Rentner bis zur Rente Zeit hatten, sie sich auszusuchen. Es gibt schlechtere Ratgeber als Lebenserfahrung! Der symbolträchtigste Moment dieses Nachmittags: Das Jugendschiff überholt ganz langsam das Erwachsenenschiff – The Times They Are A-Changin‘.

Wenn wir schon über Kiels Plattenbauten herziehen, können wir wenigstens das RBZ in den Himmel loben. So kann es doch funktionieren mit einem Schulgebäude! Stilvoll sanierter Altbau mit durchgeplantem Innenhof und einer Mensa, die an manchen Tagen fast Restaurantqualität hatte. Im Schauspielhaus genau das gleiche: Ultramoderne Ausstattung, gemütliche Sitze und ästhetische Wandverkleidung. Auch die Oper ist vielleicht nicht so groß wie die Berliner Staatsoper Unter den Linden, aber mein Gott, der Vorplatz sieht aus wie der Markusplatz in Venedig!

Viel wichtiger als die Orte und Rahmenbedingungen wart aber ihr! Irgendwas muss mit Menschen beim Theaterspielen passieren, das wegführt von blinder Rivalität und übermäßigem Erfolgsdrang. Uns ist das vor allem beim Open-Stage-Abend klargeworden. Einen Wettbewerb in einer so herzlichen Atmosphäre zu feiern und dabei jeden Teilnehmer zu respektieren, ob er jetzt eine perfekte Performance hinlegt oder nicht, ist etwas Besonderes. So konnten nicht nur die Musiker befreit spielen und singen, sondern auch die Poetry-Slammer persönliche Zeilen vortragen, ohne Spott erwarten zu müssen. Einmalig, welche Talente dadurch zum Vorschein kamen.

Auch das Filmteam bedankt sich für euren maßvollen Exhibitionismus. Ganz selten habt ihr zum Vollsprint angesetzt, wenn die Kamera um die Ecke kam. Der Festivalfilm ist also nicht zuletzt euer Verdienst. Ob und wie er veröffentlicht wird, teilen wir euch in den nächsten Tagen mit. Wir haben halt ein bisschen Angst, dass wir die Aufrufzahlen der Tomorrowland-Aftermovies übertreffen – nachher sind die Karten fürs nächste SDL nach zehn Sekunden weg. Auf der anderen Seite könnten wir dann alle unsere Merchandise-Artikel für teures Geld verscherbeln. „Der Beutel hier ist vom SDL 2018! Damit hat alles angefangen!“ Seid also nicht zu hart zu dem Zeug. Wenn die ersten Bänder am Jutebeutel reißen, dann seht es als Chance an, sie nach eurem ganz individuellen Geschmack wieder zusammenknoten zu können. Auf Wunsch macht die Social-Media-Reaktion Tutorials mit modischen Ideen – zum Beispiel rote Kordeln! Heiß.

Den SDL-Oscar für die beste Selbstdarstellung bekommt laut einstimmigem Juryurteil Cristiano Ronaldo. Siiii! Wir haben gehört, dass sich das Burgtheater Wien und die Volksbühne Berlin dringendes Interesse bekundet haben, nachdem Neymar Jr. vom Pariser Theater einfach nicht wegzubekommen ist. Gut, dass die Hessen auch noch ein Wort mitzureden haben.

Zum Schluss noch eine Ankündigung: Die Saarlandlobby soll als künftigen Festivalleiter Leo Lutz ins Spiel gebracht haben. Ganz selbstverständlich müsste damit eine Namensänderung einhergehen. Wir plädieren für „Lutzdock“ und hoffen, dass er das nächste Orga-Team nicht genauso hart anpackt wie seine Bühnenkollegen. Viel Glück – Tillmann hinterlässt Yeti-Stapfen.

Wir danken euch für euer Feedback, das wir uns immer zu Herzen genommen haben. Fast bei jeder Abendrunde wurde von Rückmeldungen berichtet, die uns dazu verleitet haben, an bestimmten Stellen noch etwas zu verändern. Nachdem sich unser Team gedacht hat, dass es einfach mal aus einer Festivalwoche zwei macht, indem es das Schlafen weglässt, waren die Rückmeldungen Balsam für die Seele. Mindestens das. Eine Woche voller intensiver Erlebnisse geht zu Ende. Es ist gar nicht so leicht, wenn die Theaterblase wieder platzt. Eine ganze Weile war man umgeben von Menschen, die für jeden Scheiß zu haben waren und in jedem Moment eine potentielle Performance entdecken konnten. Behaltet Kiel und den Politzirkus in guter Erinnerung, wir haben uns gefreut, euch begrüßen zu dürfen. Holt die Flagge erst mal wieder ein, aber bewahrt sie griffbereit auf – wir müssen auf unser Land aufpassen.

Tschüss! Und bis bald an der Waterkant!

Euer SDL-Politzirkus-Team

PS: Zum Schunkeln und Träumen: www.youtube.com/watch?v=DT86KDYyzu0

 

 

 

Smackdown vs. Raw

Thüringen spielt „Wir sehen dich, Antigone“ im Schauspielhaus

Der von Sophokles niedergeschriebene Mythos „Antigone“ erzählt eigentlich die Geschichte einer jungen Frau, die sich auf ein höheres Recht als die Verfassung beruft und für die Bestattung ihres geächteten Bruders kämpft. „Eine starke Frau! Wie passend in Zeiten der Me-Too-Debatte!“, könnte man denken. Thüringen hingegen lässt in seiner Inszenierung eine verhaltensauffällige Antigone so lange auf der Bühne Radau machen, bis sie von zwei anderen Darstellern übel vermöbelt wird. Wie rezensiert man denn das? Mixed-Martial-Arts sind nicht meine Kunstform.

Vor Beginn der Vorstellung und nach der Einleitung der Schülermoderatoren kommt Antigone zunächst nach vorne und verbietet, zu fotografieren oder zu filmen, in diesem Land werde ja ohnehin alles überwacht. Ein schiefes Bild, das einfach keinen rechten Sinn ergeben will. Politzirkus-Fotograf Augusto klickt fröhlich vor sich hin – es lebe der Protest.

Hinter den schwarzen Vorhängen, von denen die Bühne eingefasst wird, kommen nun die anderen Darsteller hervor und beschäftigen sich mit Requisiten, deren Symbolcharakter schwer zu greifen ist. Da liest beispielsweise eine Darstellerin eine Zeitung, während zwei andere auf Weingummi-Schnullern herumkauen. Solche Gruppenperformances tauchen im Laufe des Stückes immer wieder auf und verschwimmen in der Nachbetrachtung zu einer einzigen – die jeweiligen Aussagen sind einfach zu schwer voneinander zu trennen. Verallgemeinert nimmt man die Struktur des Stückes wie folgt war: Performance – Gag – Performance – Handlung – Performance – Gag – Performance – Handlung (…). Die Binderstriche sind auch auf der Bühne deutlich zu spüren.

Die Thüringer möchten Antigones Auflehnung gegen die Obrigkeit übersetzen in eine Rebellion gegen den modernen Überwachungsstaat; leider wird die Kritik thematisch aber nicht zugespitzt. Eine der stärksten Szenen im Stück hat beispielsweise nur mittelbar etwas mit Überwachung zu tun: Journalisten stehen in Trauben am Rand der Bühne und werfen Politikern, die versuchen, sich im Blitzlichtgewitter in Szene zu setzen, provokante Fragen zu. Die Politiker sind unter anderem in dekadentem Pelz gekleidet und antworten in aneinandergereihten Floskeln. Das ist keine Kritik am Überwachungsstaat, das ist zum einen eine Kritik am Vorgehen der Medien und zum anderen eine Mischung aus Merkel- und Trump-Imitation. Auch dieses Bild ist also schief. Die heutigen Floskel-Politiker, geben sich eher selten als schillernde Bonzen, sondern wechseln höchstens Mal die Blazer-Farbe, während die pelztragenden Alphamännchen alles tun, um zu verstören und zu polarisieren. Leider werfen die meisten Szenen mindestens so viele Fragen auf wie die eben beschriebene. Eine Auswahl: Warum springt Antigone mit dem Politiker (Kreon) ins Bett? Wieso wird die Staatsmacht im 21. Jahrhundert noch durch Radioansagen symbolisiert? Warum läuft drei Minuten lang ein Chanson vor sich hin? Warum spielt Amazons Alexa klassisches Horn? Warum wird plötzlich „Singin‘ in the Rain“ performt? Warum dudelt im Hintergrund die „schöne blaue Donau“? Warum pellt Antigone ein Ei? Ist die Reihenfolge der Szenen Zufall? Diese Fragen sind nicht polemisch gemeint, aber sie verknoten sich im Kopf, wenn man an das Stück denkt.

Dann gegen Ende der Höhepunkt: Die Martial-Arts-Szene. Nicht jeder Zuschauer scheint wie der Rezensent in seinen Flegeljahren eine Sport-1-Wrestling-Phase durchlebt zu haben und so blickt der ein oder andere verstört drein, als Antigone Anstalten macht, sich in Kreons Hals zu verbeißen. Das war intensiv. Wahrscheinlich die intensivste Szene beim SDL, denn als Antigone am Boden liegt dreschen Kreon und sein Kumpan fröhlich mit Kissen auf sie ein, bis sie sich nicht mehr regt. Wurde hier eine Grenze überschritten? Passt das noch zur Botschaft und zum SDL? In einigen Zuschauern arbeitet es.

Vielleicht hätte Thüringen im Jahr 2018 zu einem anderen Thema Stellung beziehen sollen. Zwar ist das Streben gegen Überwachung ein liberaler und lobenswerter Gedanke, aber die Gewichtung ist das Problem. Der Rechtsstaat, in dem wir Leben, ist momentan zu gefährdet, als dass er auf seine Rolle als „großer Bruder“ (Orwell) reduziert werden sollte.

Vorab-Interview Gina und Max, Thüringen (PDF-Version)

Der Löwe von der Saar

Sonntag, der Sechzehnte. Ein Tag, der rückblickend zum Knotenpunkt meiner Lebenslinien werden sollte. Der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Die alten Erzählungen berichten seit jeher von bedeutenden Männern. Die Attribute aber, die dieser außergewöhnliche Ehrenmann in sich vereint, hätte ich der Menschheit nicht mehr zugetraut. Die rote Sonne versank hinter dem Glockenturm der Stadt, als die Festgemeinde durch die weit geöffneten Tore des Opernhauses strömte. Arme Teufel. Hätten sie gewusst, wer unter ihnen weilt, sie hätten schon jetzt ihre Hüte in den Kieler Himmel geschleudert und den Erlöser durch die Straßen getragen. Heute frage ich mich manchmal, ob ich damals etwas gespürt habe. War an diesem Tag nicht irgendetwas anders? Fühlte sich nicht schon in den Morgenstunden alles getragener an, alles lebendiger? Heute bin ich mir ganz sicher, dass ich es gewusst haben muss. Das Schicksal hat ihn geschickt und eine Vorahnung vorausgesendet. Als ich meinen Platz im Parkett des gemeinen Volkes einnahm, spürte ich ein Ziehen von den oberen Rängen. Ich hob meinen Blick und ließ ihn über die Reihen der gehobenen Gesellschaft schweifen. Irgendwann, das wusste ich, irgendwann würde auch ich meinen Platz unter ihnen einnehmen. Noch war ich aber ein Nichts, ein gemeiner Hans Wurst in den Fängen des Proletariats. Der Abend nahm seinen Lauf, die Gemeinde vergnügte sich mit Gesang und Spiel und vergaß für einen Moment all die dunklen Wolken, die sich am Horizont zusammenbrauten. Morgen schon, das wusste ich, würden sie wieder ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nachgehen, ihren gewöhnlichen Sorgen und ihren banalen Ängsten. Ich aber, ich war zu Größerem bestimmt und daher war ich empfänglich für Zeichen. Da! Gesandtschaften aus verschiedenen Landstrichen erhoben sich zum Gruße von ihren Plätzen und zollten dem herzlichen Gastgeber Respekt. Ich war im Begriff einzudösen, als sich in meinem linken Augenwinkel Gewaltiges regte. Ein Hüne von einem Mann, ach was, ein Riese, wuchtete seinen gewaltigen Körper aus dem Sessel. Träumte ich? Lag ich im Fieber? Nein, ich wachte. Der Berg auf der Empore war ein Mensch aus Fleisch und Blut. In regional gefärbtem Ton brachte er sein Bedauern über das Fehlen seines Begleiters zum Ausdruck, der von einer Krankheit in die Knie gezwungen worden war. Ich horchte auf. Ein Begleiter? Aus dem fernen Saarland sei er gekommen, sein Treck habe Flüsse überqueren müssen, der Länge nach. Meine Gedanken schweiften ab. Was für ein Organ! Die tiefen Wellen seiner Stimme legten sich über das hypnotisierte Meer aus Köpfen. Nicht nur mich ließ seine Wirkung zerfließen, die Menge hing an seinen Lippen. Als er seine Rede schloss, brandete ein Sturm auf, den nur ein Tölpel noch als Beifall bezeichnen würde. In meinen Augen sammelte sich die Gischt. „Wer ist der junge Herr?“, brüllte ich meinem Nebenmann ins Ohr. „Der Herr? Wissen sie das denn nicht?“ Errötend gab ich es ihm zu. Mit einem gönnerhaften Lächeln legte er mir den Arm um die Schulter. „Das ist Sir Leo! Leo Lutz von der Saar!“ Seine Augen leuchteten bei diesen Worten, als wären sie glühende Kohlen. Ich blickte empor. „Leo“, raunte ich vor mich hin, „Der Löwe“. Der Opernabend zog an mir vorbei wie eine Galerie von halb entwickelten Bildern. Der Fokus lag auf meinem inneren Auge, vor dem ein junger Löwe majestätisch durch den Jägersburger Wald schritt. Das Saarland. Sehnsuchtsort meiner Kindheit und kühnsten Träume. Ich brauchte den Entschluss gar nicht erst zu fassen, er hatte mich gefasst: „Ich werde mit ihm ziehen.“.

Seelische Klaustrophobie

Bayern spielt „Spurensuche“ auf der Studiobühne

Bei uns in Hamburg gibt es eine Gedenkstätte: das KZ-Neuengamme. Mittelstufenschüler meiner ehemaligen Schule unternehmen jährlich eine Exkursion zu diesem riesigen unscheinbaren Gelände irgendwo zwischen Wandsbek und Bergedorf. Sie sollen konfrontiert werden mit den Schrecken des Nationalsozialismus. Dafür werden sie mit der S-Bahn einmal quer durch die Hansestadt gekarrt und nach einer bummeligen Juckel-Tour mit einem Linienbus vor dem nicht mehr vorhandenen Haupteingang des Lagers ausgespuckt. Wenn sie aussteigen, sind die meisten erst einmal enttäuscht: „Hier steht ja fast gar nichts mehr…“. In solchen Situationen platzt dem zuständigen Lehrer erfahrungsgemäß der Kragen, doch kann er wirklich erwarten, dass ein Ort über Generationen hinweg Geschichte vermittelt? Funktioniert die menschliche Empathie nicht anders? Die Theater-AG des Ernst-Mach-Gymnasiums Haar meint schon, und begibt sich auf eine interaktive Spurensuche nach der Euthanasie-Vergangenheit ihres Heimatortes, der sich der Zuschauer nur sehr schwer entziehen kann.

Euthanasie meint eigentlich Sterbehilfe, wurde von den Nationalsozialisten aber als Euphemismus für die systematische Ermordung und Sterilisation behinderter Menschen verwendet. Geht man mit diesem Vorwissen in die Vorstellung der Bayern, stellt sich bereits ein mulmiges Gefühl ein, wenn man zusammen mit den anderen Zuschauern den engen Gang zur Studiobühne des Kieler Schauspielhauses entlangdrängt. Aus dem abgedunkelten Raum wabert melancholische Musik. Beim Tritt über die Türschwelle stellt sich kurz die Assoziation eines Nachtclubs ein – das mit Zuschauern gefüllte Quadrat, welches den Großteil des Raumes einnimmt, sieht einer Tanzfläche nicht unähnlich. Die Darsteller aber, die an den Seiten des Raumes auf einem Laufsteg stehen und dem Publikum den Rücken kehren, unterstreichen den ernsten Tonfall der Musik und relativieren eine Nachtclubatmosphäre. Nachdem die Situation einige Minuten Zeit hatte zu wirken, wendet sich das Ensemble dem Publikum zu und das eigentliche Schauspiel beginnt. Ganz langsam ziehen sich die Figuren in eine Ecke des Raumes zurück und halten den Blickkontakt mit möglichst vielen Zuschauern aufrecht. Sie holen tief Luft und keifen mit maximaler Intensität: „Du!“ Der schneidende Befehlston geht durch Mark und Bein. Man fühlt sich erniedrigt, allein, unmittelbar gemeint. Ein Damm ist gebrochen und lässt die Einflüsse der nächsten 60 Minuten ungehemmt einfließen. Man kann nicht fliehen, ist dem Spiel, das die Darsteller mit einem treiben, schutzlos ausgeliefert. „Alle Personen unter 1,70 Meter gehen in diese Ecke, alle Personen über 1,70 Meter in jene!“ Einige Zuschauer überlegen, sich zu widersetzen, letztendlich geben alle nach. Man wird herumkommandiert, belehrt, eingeschüchtert – die enge des Raumes tut ihr Übriges, um eine seelische Klaustrophobie zu verursachen. In diese Simulation wird nun Wirklichkeit eingespeist. Biografische Ausschnitte verfolgter Personen tönen aus den Lautsprechern. Kein Buch und kein Kinofilm könnten der Empathie einen besseren Nährboden bereiten als diese körperliche Ausnahmesituation.

„Spurensuche“ möchte um jeden Preis berühren, ja zwingt regelrecht zur Betroffenheit. Vielleicht schießt die Gruppe übers Ziel hinaus und schabt an der Grenze zum Pathos, wenn sie mit roter Farbe „Leben lassen!“ an eine weiße Wand schreibt – mit solch einem Vorgehen kann man sich heutzutage wieder Feinde machen. Gerade hier wird aber auch der Mut deutlich, der das Stück ausmacht. Mut zur Wahrheit und zur Aufopferung, der als Gegenpol zu rechten Strömungen unerlässlich ist. Gerade junge Menschen sind ohne Enthusiasmus schwer zu erreichen und brauchen vielleicht statt Gedenkstättenbesuchen Erlebnisse wie dieses.

Vorab-Interview Annika, Bayern (PDF-Version) 

Maßvoll genießen

Hamburg spielt „Instagrammodels“ im Schauspielhaus

Vor Beginn des Stückes wird noch einmal ausdrücklich darum gebeten, erst am Ende Beifall zu spenden. Dass viele Zuschauer trotzdem immer wieder zum Szenenapplaus ansetzen, lässt schon erahnen, auf welche Zustimmung die Instagrammodels bei ihrer Prime-Time-Vorstellung am Dienstagabend stoßen.

Ein buntes Feld von Ballons liegt vor dem noch geschlossenen Vorhang und deutet das vielseitige Feuerwerk an, das in den nächsten 60 Minuten gezündet werden wird. Als der erste Akteur den Raum betritt, ist noch nicht ganz greifbar, ob auf den Zuschauer ein alberner oder lustiger Abend zukommt, denn der Darsteller setzt sich in Skimontur ans Piano und versucht mit Fäustlingen Klavier zu spielen. Das Resultat klingt jedoch überraschend gut und der Vorhang öffnet sich zu den Anfangsakkorden von Adeles „Someone like You“. Schon jetzt spricht nur noch wenig für reinen Klamauk, dafür ist das erste Bild zu ästhetisch in Szene gesetzt: Die singende Darstellerin steht auf der Spitze einer kleinen Barrikade, die aus Klamotten und Gepäck besteht. Sie steht im Lichtkegel und wirft einen großen Schatten auf die Bühnenrückwand. Wie Schaufensterpuppen liegen ihre Mitspieler ihr zu Füßen und schauen mit leerem Blick in unterschiedliche Richtungen. Über dem Menschenhügel im Ballonmeer schweben vier silberne Ballons, die den Schriftzug „2-0-1-8“ bilden – als Damoklesschwert schwebt die heutige Zeit über den Jugendlichen und wirft ebenfalls einen vielsagenden Schatten.

„(…) but sometimes it hurts instead.“ Die Schaufensterpuppen erwachen und es beginnt ein energisches Gezeter. Ihre Rolle am Fuß des Hügels gefällt ihnen nicht, sie wollen gefälligst auch im Rampenlicht stehen. Diese Spiegelung des zeitgenössischen Tunnelblicks stellen die Hamburger in einer Mischung aus Monologen und akkuratem chorischem Sprechen dar, die fesselt. Ein Auftakt für eine Reihe von Bildern, in denen so ziemlich jedes kontroverse Thema durchgearbeitet wird, das der Zeitgeist zu bieten hat: Entscheidungszwang, Schönheitsideale, Kapitalismus, Bindungsangst, Klimawandel. So viel zum Inhalt. Trotz der kritischen Ambitionen, die der Titel suggeriert, wurden wenige überraschende Denkanstöße gegeben, das Stück lebt von der Ästhetik und seiner Energie. Die Ballons hatten recht.

Die Kostüme schaffen die optische Basis. Die Hamburger sind einfach stilvoll gekleidet. Vor allem die Darsteller leicht versnobter oder skurriler Charaktere nutzten die Chance, um eine modische Extravaganz auszuleben, die im Alltag schwer unterzubringen wäre. Selbst rein symbolische Accessoires wie Rettungsringe wirken farblich nicht gänzlich aus der Luft gegriffen, hier wurde mit viel Liebe fürs Detail gearbeitet. Als Bühnenbild bleibt die Klamottenbarrikade eine Konstante, allerdings fängt sie mitunter an zu dampfen und wird von verschiedenfarbigem Bühnenlicht in Szene gesetzt. Das Auge ist also angenehm eingelullt, das Ohr aber hat den Jackpot gewonnen: Das Albert-Schweizer-Gymnasium gilt als eines DER Hamburger Musikgymnasien, weshalb die Regie akustisch aus dem Vollen schöpfen konnte. Bratschensolo, Posaunenbegleitung, Streicherquartett, Klavierbegleitung, klassischer Gesang und ein Ensemble, das auch als Chor hätte auftreten können – so macht Musiktheater Spaß.

Besonders ansprechende Momente entstehen, wenn die darstellenden Elemente mit der Musik verknüpft werden. So lässt eine live gesungene Choral-Begleitung ein übergroß gestreamtes Donald-Trump-Video einzigartig skurril wirken, indem es das Proletentum des Hauptdarstellers mit der eigentlichen Würde des Präsidialamtes in Kontrast setzt. Das Publikum johlt und müsste eigentlich schluchzen. Das ist vielleicht die große Gefahr, die von solchen Stücken ebenso ausgeht wie von populären Formaten der Kategorie „Neo-Magazin-Royal“. Lachen ist Schmerzmittel aber keine Medizin. Man macht gute Miene wegen des bösen Spiels und die permanente Ironie hebt die Wirkung der Inspirationsquellen nicht so grundlegend auf, wie man es gerne hätte. Zu viel Konsum macht hier eher zynisch, als dass er aufklären würde. In diesem Bild ist das Hamburger Stück ein Genussmittel. Kenne dein Limit.

Vorab-Interview Paula & Malte, Hamburg (PDF-Version)

Gästeliste +1

Als Doppelagent bei der Fachtagung

Vielleicht habt ihr am Rande mitbekommen, dass neben euren Workshops auch Fachvorträge gegeben wurden. Normal war mit Gästeliste, aber der Türsteher war Ehrenmann, ich bin auch so reingekommen. Der erste Vortrag war wie eine Universitätsvorlesung aufgebaut. Für Leute, die zum Einschlafen Hörspiele hören, kann das ermüdend sein. Ich aber lese ja lieber die Sprüche über Niels‘ Bett und war hellwach. Der Redner war Herr Dr. Ingo Juchler, unter anderem Politikwissenschaftler, der in einer dreiviertel Stunde mal eben souverän 2 ½ Jahrtausende politische Theatergeschichte aspektorientiert zusammengefasst hat. Maschine. Grundaussage: Nur durch Freiräume wie das Theater bekommt ein Rechtsstaat ein stabiles Fundament. Kann man so stehen lassen. Auch Herrn Juchler gefiel sein eigener Vortrag offenbar so gut, dass er gar nicht mehr aufhören wollte. Schließlich musste er sich selbst abwürgen. Die Pinkelpause ist dabei trotzdem draufgegangen und so wurde es im folgenden Vortrag etwas unruhig im Publikum.

Jetzt redete Branko Šimić, ein Hamburger Theaterregisseur und Kurator. Der Name lässt schon vermuten, dass Herr Šimić vom Balkan stammt und passend zu seiner Herkunft war auch das Thema seines Vortrages. Es ging um das Massaker von Srebrenica, den größten europäischen Massenmord seit dem Ende der Shoah. Für Šimić ist klar, dass politisches Theater nicht ohne Schmerz funktionieren kann und so berichtet er ungeschönt von der teilweise sehr belastenden Arbeit an der Thematik, die er als ein minimalistisches Zwei-Personen-Stück auf eine kleine Bühne des Thalia Theaters Hamburg gebracht hat. Die Wahrheit ist nicht immer eine Komödie und muss trotzdem ans Tageslicht kommen, dafür arbeitet Šimić. Am 30.10. läuft das Stück zum 25. Mal. Überlegt es euch, liebe Hamburger, Schatten gehört genauso auf die Bühne wie Licht. Hier gibt es Infos und Schülerkarten für 10€: https://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/srebrenica/

Jetzt konnten sich unzählige Blasen endlich Erleichterung verschaffen, bevor Uta Plate, eine gebürtige Schleswigerin, und renommierte Theaterpädagogin, die unter anderem über 10 Jahre an der Berliner Schaubühne gearbeitet hat, ans Rednerpult trat. Im Raum kennt und liebt man sie für ihre pädagogischen Ratgeber. Das klingt nach eingestaubtem Lehrer-Bücherschrank, ausgestrahlt hat sie aber das Gegenteil. Die Dame hat dermaßen Street-Cred, die würde Bonez und Gzuz mit ein paar Wochen Theaterarbeit von der Straßenbande ins literarische Quartett bringen. Woran merkt man das? An ihren Taten. Wie zuvor bei Šimić ist ihr Vortrag ein Bericht über ihre Art zu arbeiten. Auch sie hält die Beschäftigung mit schmerzhaften Thematiken für die wertvollste. Nachdem sie unter anderem in einer Jugendvollzugsanstalt mit Inhaftierten inszeniert hat, ging sie nach Dresden, um den Vorurteilen über rechtsradikale unerzogene Sachsen nachzugehen und sich ein eigenes Bild zu machen. Mit Jugendlichen, die aus einem zur Pegida neigenden Stadtviertel kamen, brachte sie trotz erheblichen Widerstands aus der Gruppe und einigen der Elternhäuser ein erfolgreiches Theaterstück auf die Dresdner Bürgerbühne, das Vorurteile Stück für Stück abbaut. „Aber Ute, häää? Isch versteh das nisch, isch dachte, das sind Monster!“, ahmt Plate die Reaktion eines Schülers auf die Konfrontation mit einem syrischen Flüchtling nach. Sätze wie diese zeigen ihr, dass sich auch ein Kampf gegen Windmühlen lohnen kann. Seid mal nicht zu hart zu euren Theaterlehrern; deren Kampf ist nicht selten genauso wahnsinnig – im positiven Sinne.

Stechen wir in See!

Mensch, das war ja rührend, wie wenig Negatives dabei herauskam, als wir euch in den Vorab-Interviews nach eurer Meinung zu Kiel gefragt haben. „Ich mag den Norden, ich mag die direkte Art!“ Wäre es irgendwie mit unserem plattdeutschen Temperament vereinbar, würden wir glatt rot werden. Solchen Vorschusslorbeeren eine ganze Woche lang gerecht werden zu müssen, kann einem fast Sorgen bereiten. Nachher findet ihr noch heraus, dass das Leben hier oben keine gemütliche Flens-Werbung in Dauerschleife ist! („Du Hein, was ist dein Lieblingstier?“ – „…der Zapfhahn.“) Es wäre schlimm, wenn ihr enttäuscht wieder abfahrt und euren Eltern erzählt, dass auch nördlich der Elbe das Leben irgendwie doch dasselbe ist. Das wäre tragisch, ja, aber ein echter Seemann lässt sich von solchen Gedanken gar nicht erst erschüttern. Dann ballern wir zusammen eben eine Kieler Woche aufs Parkett, die sich gewaschen hat. Beim heutigen Auftakt auf dem Rathausmarkt entzünden wir die Nordlichter in euch und blenden all die anderen Nebelkerzen aus, die einem irgendwelche Klabautermänner in den Kopf setzen wollen. Bei uns im Norden ist Hafen und Multikulti Programm. Unser Schiff zeigt Flagge und segelt ganz gemächlich in die richtige Richtung. Gemeinsam werden wir zur Regatta, die in unruhiger See ein Zeichen setzt für norddeutsche Gelassenheit. Willkommen in Kiel!

Irre witzig

Solltet ihr Angst haben, die SDL-Veranstalter schlürfen im Jacuzzi Sekt, während ihr in der Jugendherberge Küchendienst habt, können wir euch beruhigen. Wir nutzen die SDL-Woche, um unser eigenes Existenzminimum auszutesten und haben dafür mit dem Jugenddorf Falckenstein eine einmalige Anlaufstelle gefunden! Als könnten sie kein Wässerchen trüben, schmiegen sich die Hütten der Siedlung dicht aneinandergedrängt an die Uferböschung der Kieler Förde. Man kann förmlich hören, wie grauhaarige Kreuzfahrer auf den vorbeigleitenden Schiffen ihrer dritten Ehefrau ins Ohr raunen: „Da schau an, wenn wir 30 Jahre jünger wären, würde ich uns im nächsten Sommer auch so ein Häuschen mieten!“ Nie im Leben. Wie der Scheinriese in Michael Endes Jim Knopf schrumpfen die romantischen Sehnsüchte nach Ursprünglichkeit immer weiter in sich zusammen, je näher man der Eingangstür eines dieser Verschläge kommt. Spätestens wenn man vor den langen Brettern mit Matratzen steht und sich vergeblich nach einem Bett umschaut, ist vom Duft der Freiheit nur noch ein abgestandener Lagermief übriggeblieben. „Da wurden damals 1972 die Olympioniken untergebracht, ich finde das irre witzig, das ist ein bisschen wie beim Zelten!“ An solchen Äußerungen merkt man, dass unser Theaterleiter Andi aus dem letzten Jahrtausend kommt. Was ist denn bitte am Zelten witzig? Aber nein, wir wollen uns nicht beschweren. Wir brauchen keine Heizung! Duschen, in denen man aufrecht stehen kann? Come on! Wir werden der ganzen Welt zeigen, dass wir uns von First-World-Problems nicht unterkriegen lassen! Wir haben ja eine Mission! Flagge zeigen! Dafür gehen wir gerne mit 12 Leuten auf eine genderneutrale Toilette und so. Wenn ich vor dem Einschlafen von einem geheizten Hotelzimmer träume, bringt mich der Satz, der über Niels Bett an die Dachschräge geschmiert ist, wieder zurück in die Realität: „Juckt mich am Arsch!!!“ Ist doch alles halb so wild, wir machen kein Theater.

Ein derbes Moin Moin von der Waterkant!

Diesen Herbst wird es politisch und wo heutzutage Politik ist, darf eines nicht fehlen: Ganz großes Drama! Unter dem Motto „Flagge zeigen!“ hat das diesjährige Schultheater der Länder dazu aufgerufen, Farbe zu bekennen für… ja für was eigentlich?

Für Freiheit?                                                                                                                            „Haben wir doch! Mit Handgepäck und Easyjet für 30,76€ nach Rom!“

Für Gleichheit?                                                                                                                „Voll nice so, meine Freunde hören auch die gleiche Musik irgendwie!“

Für Brüderlichkeit?                                                                                                             „Normal, Bruder! Zu 6. Im Mercedes, weil alle Jungs müssen mit!“

Sind das die Antworten, die wir als Generation „Head-Down“ heute noch zu bieten haben, oder werden uns solche Klischees nicht gerecht?

An dieser Frage zu arbeiten ist vielleicht das wichtigste beim diesjährigen SDL – wichtiger als der Wettbewerb, wichtiger als die Show. Trotzdem müssen wir keinen todernsten Politik-Kongress draus machen, sondern erreichen wahrscheinlich sogar mehr, wenn wir einfach zusammen ein offenes und lebendiges Festival gestalten. Dieser Blog will mit Hintergründen, Eindrücken und fairen Rezensionen dazu beitragen, ohne sich in den Vordergrund zu drängen                            – das Rampenlicht gehört Euch!

Viel Spaß beim Lesen wünscht

Eure SDL-Blogredaktion 2018